1976 stuttgarter zeitung on zettel

helmar m. heger
zettlers traum von der überwindung der sprachbarriere
ein pfadfinder abseits von bestseller-trampelpfaden


"lesestoff". höflich überreicht der schlanke, dunkelblonde junge mann dem vorüberhastenden passanten ein zettelchen im format zigarettenpapier. werbung für irgendwen, irgendwas? kein kommerzansinnen in jedem falle. höchstens der eigenwillige versuch des wieners christian ide hintze, mittels zettelflut zugang zu den köpfen der mitmenschen zu finden. seit zweieinhalb jahren rieseln hintze-zettel in den deutschen sprachraum, macht der textverteiler aus der alpenrepublik von sich reden, reden's über ihn, reden miteinand'. in der literaturlandschaft ein pfadfinder abseits von bestseller-trampelpfaden, eher ein wildwechsler – aber was für einer.

feuilletonistischem sprachgeklingel ist er abhold und auch dem eingefahrenem literaturbetrieb. "ich such' die nähe zum publikum." in seinem rucksack liegen stets 50.000 zettel parat, griffbereit für den versuch, mit den mitteln sprache und schrift kontakt zu breiten schichten der bevölkerung aufzunehmen, "um der gängelung durch die massenmedien erstmal zu entgehen und für die zukunft ansätze zu deren überwindung zu erarbeiten".

des studenten – literatur- und kommunikationswissenschaft – fleiß war nicht gering. eine halbe million textzettel hat er schon unter die leute gebracht, hautnah immer da, wo die meisten zu finden sind - in lokalen, auf der straße, vor betrieben, bei menschenansammlungen. der "zettel als wahrnehmungsinstrument" zur selbsterfahrung für einen, der sich nicht "aufführen will wie einer, der schreibt", dem die sprachfilter in redaktionen und verlagen so unnötig vorkommen wie der ständig im eigenen saft vor sich hinschmorende kulturbetrieb, dessen produkte nur denen zugänglich sind, die sprachbarrieren überwinden können.

der 22jährige hintze will sein publikum mit sprache beschäftigen, es sensibel machen dafür. die selbstgewählte art der öffentlichkeitsarbeit bietet gelegenheit, eigene texte unters volk zu bringen, aber nicht nur das: vielleicht ist er nicht grad' ein literarischer bilderstürmer, aber "entschlacken" möchte er das, was gemeinhin für literatur gehalten wird, schon. ein animator der sprache, ihrer verwendung, ihrer ausdrucksmöglichkeiten - zettlers traum von "einer massenhaften bewegung von leuten, die schreiben".

das sanfte rütteln an den herrschaftssäulen des literaturbetriebs hat bis in die höchsten etagen der alpenländischen kulturbürokratie hinein rumort. dort hält man den hintze christian keineswegs für einen spinner, für den ihn mancher zettelempfänger auf der straße in unkenntnis des hehren anliegens zunächst ansehen möchte. ein stipendium des österreichischen bundesministeriums für unterricht und kunst, abteilung literatur, hat es hintze ermöglicht, das heimatland, die schweiz und deutschland zur verwirklichung des projekts "durchsuchung eines sprachraums" zu bereisen.

wo's um die sprache geht, scheut der zettelautor auch den auftritt im für individualisten seines schlags wenig günstigen ddr-dunstkreis nicht. mehrere stunden hat er so unter den linden und am marx-engels-platz in ostberlin sätze und texte ausgesendet, bis ihn "organe der schutzmannschaft" in einem polizeilokal "höflich und korrekt" nach dem warum seines handelns befragten und schließlich die verbliebenen 1500 zettel vereinnahmten. (...)


(helmar m. heger in: stuttgarter zeitung. samstag, 16. oktober 1976)