1978 falter on zettelalbum

christian ide hintze: zettelalbum. buch.
straßentagebuch, zetteltexte, briefe von passanten.
michael schönemann verlag. 222 seiten. isbn 3-921825-12-1. kisslegg 1978
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n.n.:
zettels reise

im letzten falter hatte ich hintze als einen bezeichnet, der durch seine radikale verweigerung herkömmlicher distributionsformen sich außerhalb des literatur"betriebs" stellt. nun liegt ein buch von ihm vor. es trägt den titel "zettelalbum" und dokumentiert ausschnitthaft vier jahre seiner tätigkeit.
"in vier jahren hat christian ide hintze etwa 1,2 millionen zettel aus der hand gegeben. gedichte, nachrichten, überlegungen, utopien. an unvorbereitete in wien, österreich, deutschland und der schweiz. auf der straße, im café, vor betrieben, schulen, im kino, theater, überall, wo sich menschen finden. mit unterschiedlichen reaktionen. über 3000 briefantworten hat er erhalten.
kurz nachdem ich unter die verleger gegangen war, habe ich ide hintze gefragt, ob das, was ihn darstellt, nicht in buchform gebracht werden sollte. er hat zuerst nur gelacht, und es war davon die rede, seine mitteilung in zeitungspapier einzupacken, wie einen geräucherten hering.
jetzt ist aber doch so etwas wie ein richtiges buch daraus geworden. von dem ich zweifel habe, ob es ihm gerecht geworden ist, ob es das anliegen hintzes lesbar und spürbar macht." schreibt sein verleger im vorwort.
daß hintze sich nicht selbst "verraten" hat, indem er nun doch die form des buches wählt, wird schon im inhaltsverzeichnis angedeutet:
"inhalt
zettel        1-224
notizen    1-224
zuschriften    1-224"

das buch ist erst vor wenigen tagen bei uns eingetroffen, frisch aus der buchbinderei und, wie hintze hingekritzelt hat, "jetzt als munition für meine ganz unkriegerische reise". von einer rezension kann keine rede sein, obwohl jetzt auch dem, der nicht hintzes zettel gesammelt hat, genug material vorliegt, um würdigen zu können, wieviel intensität und überraschende eleganz seine kleinen texte durch die erfahrungen dieser vier jahre bekommen haben, in denen sich hintze den empfängern seiner texte aussetzte. das braucht doch etwas mehr zeit. ich will hier nur appetit machen auf das buch. alle folgenden zitate stammen aus zuschriften, die hintze erhielt. sie sind dem buch "zettelalbum" von christian ide hintze, michael schönemann verlag, wuhrmühle, d-7964 kisslegg im allgäu entnommen.

sehr verehrter herr hintze!
bevor sie die gedichte und kurzprosa verschenken, möchte ich diese gerne sehen und bitte um zusendung. möglicherweise kann ich in meiner eigenschaft als literaturagent eine verwertung ermöglichen und sie können hier mit sicherheit ein honorar bekommen.

so hast du ins schwarze getroffen, indem du mich nicht getroffen und so vor die frage gestellt hast, wo ich denn sei, wenn nicht dort, wohin ich es schießen habe sehen.

ich selbst bin mechanikermeister, aber schon mehrere jahre im ruhestand. im laufe der zeit und besonders während meiner gefangenschaft in südfrankreich im jahr 1945 habe ich mehrere gedichte geschrieben. auch später bis in die letzten jahre habe ich noch einige hinzugefügt. veröffentlicht oder herausgegeben sind dieselben nicht, mit ausnahme einiger, die ich drucken lies und dann verteilte oder an blumenhandlungen kostenlos zur verteilung abgab. der zweck meines schreibens ist nun der, mit ihnen in verbindung zu treten und gedichte zu tauschen. dazu möchte ich den anfang machen und lege ihnen rosen und nelken bei. für porto und rücksendung komme ich auf.

ihre art, sich zu äußern und äußerungen einzuholen, hinterläßt sehr viel tiefere spuren, als sie vielleicht ahnen können, denn die winzige form des flugblatts, so wie sie es handhaben, trägt alle anzeichen eines mythosbegründenden ereignisses. einem mythos aber sind auf dauer weder die elektronischen medien noch die wissenschaft gewachsen. vor allem dann nicht, wenn sie so besessen wie bisher weitermachen und "den zettel" quasi als sechsten finger, als dritte hand, als verlängerte zunge, als neuen körperteil, als sechsten (oder schon siebenten) sinn gebrauchen.
sie werden sehen, die menschen (auch die wiener) werden ihnen in späteren jahren verehrung entgegenbringen für das, was sie heute erleiden müssen.
schließlich noch etwas, das ich ihnen sagen möchte. meine hoffnung in sie ist eine hoffnung auf mehr öffentliche zärtlichkeit. aber das soll sie zu nichts verpflichten, ich bin, zugegebenermaßen, im moment zu feig, meinen namen unter diesen brief zu setzen.
ein betrogener, der viel studiert und nichts dabei gelernt hat (zweifaches doktorat)

ich finde deine sprache nicht besonders aufregend. was mich viel mehr fasziniert ist deine art der kommunikation mit der welt. für mich ist das ein permanenter aufruf deinerseits an die um- und mitwelt nach kommunikation, nach mitteilung und antwort.


(n.n.: falter, stadtzeitung für wien, erscheinungsdatum konnte nicht eruiert werden – wahrscheinlich ende 1978)