1978: hinauswurf stuttgarter buchwoche

Early Conflicts. Beispiel: das Verteilen von Gedichtzetteln im öffentlichen Raum, Österreich, Deutschland, Schweiz, Holland 1974-78.
---------------------------------------------------------------

Thomas Borgmann
Der Dichter Christian "Ide" Hintze in Stuttgart
Schlimmes von der Buchwoche


Ein Fotokopierer dient ihm als Druckmaschine, denn einen Verleger braucht er nicht – obwohl er einen hat. Christian Ide Hintze, genannt "Ide", 24 Jahre alt, Dichter aus Wien, reist drei Wochen lang durch deutsche Städte, um Zettel zu verteilen – Zettel, auf denen er Gedichte, Nachrichten, Überlegungen, Utopien oder Aphorismen unter die Leute bringt. Seine Leser sollen ihn nicht nur gedruckt zwischen Buchdeckel sehen und kennenlernen, sondern auch auf der Straße. Und er selbst – im "bürgerlichen Leben" Student der Kommunikationswissenschaft – möchte mit ihnen ins Gespräch kommen, von ihnen lernen und zu immer neuer "Literatur auf Zetteln" angeregt werden.
In den vergangenen vier Jahren hat Hintze sage und schreibe 1,2 Millionen seiner handlichen Texte verteilt. In Wien, seiner Heimatstadt, ist er sogar allseits bekannt – und viele kommen zu ihm, wenn er in der Kärntnerstraße Neues aus eigener Feder verteilt. Auf Interesse stieß er auch gestern und vorgestern in Stuttgart: auf der Unteren Königstraße, vor den Werkstoren von Daimler-Benz und vor Niedlichs Buchladen in der Schmalen Straße.

Bei der Eröffnung der "Stuttgarter Buchwochen" am Mittwochabend im Landesgewerbeamt widerfuhr Christian Ide Hintze allerdings Schlimmes: Als er gerade damit beginnen wollte, im Foyer vor dem Großen Saal seine kleinen Zettel an die Geladenen zu verteilen, wurde er hochkant hinausgeworfen. Eine Begründung gab's dafür nicht. Wahrscheinlich glaubte man, "Ide" sei ein politischer Agitator, ein Extremist, der die Bücherschau stören wolle. Wahrscheinlich wurde ihm angekreidet, daß er beim Zettelverteilen, auch in geschlossenen Räumen, einen Hut zu tragen pflegt. Immerhin glückte es ihm, vor der Tür Oberbürgermeister Rommel sein Geschriebenes mitzugeben. Als das Empfangskomitee drinnen dem Stadtoberhaupt das bißchen Papier willfährig abnehmen wollte, lehnte es dieses Ansinnen jedoch ab.

Wenig später sprach Hausherr Dr. Hildebrandt in seiner Eröffnungsrede davon, daß das Buch Freiheit bedeute, weil Dichter und Schriftsteller darin Gedanken und Meinungen niederlegen könnten. Kassandrarufe, so Hildebrandt weiter, brächten diese Freiheit zwar in Gefahr, "aber welchen Wert haben diese Behauptungen und Anschuldigungen, wenn der Öffentlichkeit keine Beweise vorgelegt werden?"

Diesen Beweis hatten Hildebrandts Mitarbeiter kurz zuvor geliefert – der Buchhändler Wendelin Niedlich verließ aus Protest gemeinsam mit Hintze die Buchausstellung.

Auf einem 10,5 Zentimeter großen Zettel schreibt "Ide" beispielsweise: "Ohne diesen Zettel hätten wir beide eine Bewegung weniger gemacht." Das stimmt. Und Dr. Hildebrandt hat sich zusätzlich noch ordentlich blamiert.


(Thomas Borgmann in: Stuttgarter Zeitung, Freitag, 17. Nov. 1978)