1988 stuttgarter zeitung on die goldene flut

christian ide hintze: die goldene flut. buch. gedichte.
kiepenheuer & witsch. 197 seiten. isbn 3-462-01815-9 . köln 1987
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hannelore schlaffer:
grüner schnee im feuer
chr. i. hintzes gedichte


unsere zeit liebt die große geste nicht. mitreißende politische reden wären verdächtig, rührende festreden sind lächerlich, subjektiver überschwang gilt als verlogen. wenn einer denn, wie christian ide hintze auf den straßen wiens herumzieht und den passanten seine lyrik der großen worte deklamiert, ist er der guru und damit ein mehr oder weniger liebenswerter narr, wenn er schließlich seine poesie in einem band herausgibt, ist das urteil schon bei der hand: das ist alles schwulst, kitsch, bombast.

in einer literatur, in der nur eine "lyrik des small talk" gilt, in der ein verschämtes gefühl von liebe schon viel ist und das reden über essen, trinken, tisch, bett und stuhl die tradition des hohen stils modernistisch kontrapunktiert, sind auch jene dichter einer tradition der pathetischen lyrik vergessen: pindar, klopstock, whitman, rilke, eliot, ginsberg, brinkmann. in diese tradition gehört hintzes buch "die goldene flut", und sollte auch sein werk das niveau der großen dieser gattung nicht erreichen, so kann er doch geschätzt nur in ihrer umgebung werden.

guru jedenfalls ist hintze nicht, da seine leidenschaftliche prophetie dem anbruch eines neuen lyrischen zeitalters gilt - und welcher religionsstifter und weltverbesserer würde seinen einsatz auf einen so bescheidenen gewinn setzen! wenn hintze seiner heimatstadt wien den beginn einer neuen poetischen epoche verkündet und sich selbst als den messias der neuen intensität vorstellt, so ist das nicht etwa hippie-seligkeit, sondern eine rhetorische geste, von der antike an bis heute in der gattung der hymne bekannt. allen ginsberg war der letzte, der, etwa in der "ego-beichte", diesen topos verwendete. "ich will das prunkstück der poesie sein, das triumphiert über die verschlagenheit der welt, / allwissend, atmend seinen eigenen atem in der halluzination von krieg, tränengas, spionage."

als dichter im strengsten wortsinn, als einer also, der ein spezialist der sprache ist, ihre tradition, ihre experimente kennt und fortsetzt, stellt sich hintze denn auch im ersten satz seines buches vor: "so wie andere gedichte ihren anlaß in einer naturbegebenheit haben, einem flirt, einem umsturzimpuls, haben meine ihren anlaß in gedichten, die andere, von mir als groß verehrte dichter vor mir geschrieben haben." hintzes vorbilder reichen von sappho bis zu jimi hendrix, von rimbaud bis mao tse tung, von ana achmatowa bis yoko ono. seine worte setzt er also in einen welthistorischen raum, und sie klingen kosmischer als sonst die worte der modernen lyrik. die poesie der gegenwart bezieht sich höchstens noch auf den einen historischen augenblick des zwanzigsten jahrhunderts, da apollinaire beispielhaft mit seinem epochemachenden gedicht "zone" von 1912 die syntaktische ordnung der sprache zerstörte und pathos, gefühl und wohlklang des gedichts durch eine unbekannte sprödigkeit, alltäglichkeit und disharmonie zerbrach.

dieses linguistische experiment vom anfang des jahrhunderts wird heute in der lyrik mit handwerklicher routine wiederholt. als modern empfinden wir ein gedicht vor allem dann, wenn es aus unvollständigen sätzen, syntaktischen verwerfungen, zerfetzten metaphern und undeutlichen vergleichen besteht.

bei hintze jedoch bleibt die grammatik intakt, er gewinnt das dunkel und die mystik seiner lyrik nicht aus der zerstörung des vertrauten instruments der sprache, sondern aus der ungewöhnlichkeit visionärer bilder. die einfachen, parataktischen fügungen erwecken zunächst bei lesern und zuhörern den eindruck, als spräche der dichter ihre sprache. erst durch durch das, was ihm die inspiration eingibt, erhebt er sich über den alltag.

die einfachheit der mittel und die dunkelheit der bilder kennzeichnen ein  weiteres mal den hymnischen stil dieser lyrik: "felder, gräser, zungen treiben auf den ozeanen. grüner schnee glüht in den feuern. / apfel, münzen, tränen rollen im flußbett von der mündung an die quelle. grüne flammen schlagen aus den eisgebirgen."

wenn die wasser zur quelle zurückfließen, bricht in der hymne eine endzeit an. apokalyptische wetter durchqueren denn auch die landschaften von hintzes gedichten: donner, stürme, dämpfe, nebel, hagel ziehen über öden, meere, ströme. der hymnische dichter verfügt nur über gewaltige worte, grelle farben, scharfe kontraste, licht und dunkel, dramatische effekte. wo er diese nicht "schaut", fällt er in die banalsten aussagen der umgangssprache zurück. zwischen naiver einfachheit der aussage - der beschreibung einer befindlichkeit, die nicht mehr sagt als: hier bin ich - und erhabener situation wechselt daher der aufbau von hintzes gedichten. diese beiden haltungen ergeben einen raffinierten ryhthmus von spannung und entspannung, prophetie und zuständlichkeit, erhabenheit und banalität.

rolf dieter brinkmann war der vorläufig letzte vertreter einer lyrik des hohen stils in der deutschen gegenwartsliteratur. seine themen waren immer politisch. nach ihm begann eine epoche des lyrischen raisonnements, der moralischen probleme. die gegenstände in hintzes gedichten sind weder im revolutionären noch im moralischen sinne politisch. es bedürfte schon einer moralisierenden interpretation, um aus diesen mystischen tönen noch die klage um den sterbenden wald und den atomknall herauszuhören.

was man an sinn getrost nach hause tragen kann, macht den reiz und die qualität dieser lyrik nicht aus. ihr faszinosum ist ihre singularität in der gegenwärtigen szene, in der die dichter so heiter, menschenfreundlich und imitierbar sind, die undurchschaubarkeit der einfälle also, die uninterpretierbarkeit des sinns, der klang der wörter, der glanz der dinge, der irrsinn des versuchs, hier und jetzt eine hymne zu schreiben. vielleicht ist hintze ein fitzcaraldo der sprache.


(hannelore schlaffer in: stuttgarter zeitung, 18. juni 1988)