schutting über christian ide hintzes "nantzn"

christian ide hintze: nantzn. dvd. asemantische performative poesie.
72 tracks. laufzeit: 73 minuten.
modena / [a:o]. isbn 978-3-9502923-0-5. wien 2010
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julian schutting:
eher transformationen als performances


zu christian ide hintzes doch wohl eher transformationen als performances - nimmt ja nicht nur verschiebungen innerhalb mehrerer medien vor, sondern verwandlungen:

in seinem großen essay "die geburt der tragödie aus dem geist der musik" leitet friedrich nietzsche bekanntlich die theatralische kunst aus dem dionysoskult her, aus dem rausch und dem rauschhaften,
und an diesen titel halte ich mich nun in bezug auf christian ide:
die geburt der dichtung aus einem rülpser,
         dem ersten der menschheit
die geburt der dichterischen sprache
         aus zeichengebungen und gelalle
         in noch sprachlos für uns undenkbarer zeit
die geburt der verskunst aus der rückbesinnung
         auf in infantilen tagen prustend, spuckend,
         gurgelnd und lallend hervorgebrachten lauten
die geburt der poesie aus übungen des ein-und ausatmens
die wiedergeburt archaischen sprachbewußtseins durch einen
         traumtänzer, der lautlos in ihm vorhandenes
         in hörbares dirigiert
die wiedergeburt frühmenschlicher sprachen aus einem zwiegespräch
         mit der hand wie mit einer kasperlfigur oder mit einem
         kind, zur hervorlockung der noch nicht wort gewordenen
         gedanken, indem er hinhorcht auf das, was ihm seine hand
         in einer noch wildfremden stummerl- oder stummelsprache
         kundtun möchte

im namen der mehrdeutigkeit der kunst gestatte ich mir nun auslegungen einiger szenen, die sie zu sehen bekommen werden -

da hadert einer unterhalb der waldgrenze, wie ein bergsteiger oder holzfäller hinangestiegen, mit dem weltenschöpfer in einer weder für den noch für ihn selbst verständlichen, weil erst im entstehen begriffenen sprache über gott und die welt; scheint sich mit diesem sprech- und sprachausbruch luft zu machen, daß er die bäume nicht umstoßen kann (nebenbei: wahr ist, daß laute, ob nun aus uns herausgeschleudert oder bedächtig artikuliert, als abstraktionen von bedeutungen unbeleckt sind, wie auch dann, wenn sie sich zu wortähnlichen einheiten zusammenschließen - das so entstandene pseudowort "nantzn", beispielsweise, ist als eine erfindung eines allen sprachen entrückten augenblicks in keinem wörterbuch zu finden, aber das hindert mich nicht, ihm für mich einen inhalt aufzuzwingen - als ein hauptwort erkläre ich "nantzn" für ein gartengerät, für eine haue zum entwurzeln von unkraut, aber auch - viele wörter haben ja etliche bedeutungen - für eine bergzinne, einen grat, als zeitwort aber weder für "raunzen" noch für "trenzen", sondern für "den ranzen schnüren" oder "ranzig riechen" - daran kann christian ide mich nicht hindern!)

oder die szene, wo sich hintze die vokale "a" und "o" als rufe des staunens zu eigen macht, als hätt es die zuvor nicht gegeben; als gäbe es sie erst von ihm aus ihm hervorgebracht - formt das "a" auch gestisch, läßt es wie eine erahnung der noch nicht erfundenen buchstabenschrift auf dem bildschirm erscheinen.

oder die szene, wo er, wieder in einen sprachlosen zustand kontemplativer ich-entäußerung geraten, in einem tänzerischen ritual den erdgeist zu beschwören scheint - wäre die sprache der poesie aus der vulkanischen glut des erdinnern heraufzuzitieren gewesen in archaischen zeiten? siehe auch die beschwörungen des luftgeistes ariel mittels bewußtseinsveränderungen bewirkender atemübungen, bis sich laute formen, recht anders als sprechblasen (und so darf man, vor allem in der a- und o-szene, alpha et omega, einen schimmer von dem empfangen, was die esoteriker "urschrei" nennen)

oder die szene, wo er in einem leeren raum, gedächtnisleer wie eher die zelle eines in den narrenturm gesperrten als die eines mönchs, die erste nänie präantiker zeiten singt, ein klagelied also des wortlautes "null-null-dsche"

also all die szenen, wo er als ein trancetänzer frühmenschliche sprachen in gestalt seiner wortkompositionen nach strenger partitur ins hörbare dirigiert, unterm druck der laufenden kamera sich in unsere urwaldahnen zurückholt; wo er mit der körpersprache des sichelns, mähens, zuckerrohrschneidens für den rhythmus sorgt, der der frühen dichtung zugrundegelegen sein könnte, als verbindlich gewesene kunstform, als ein kanon für erntelieder.

also auch die szene, wo er in getanzten balanceakten anleihen macht beim philosophisch fundierten tai chi der chinesen, etwas recht anderes als unsere banalen gymnastikübungen - scheint mit diesen tänzerischen balance-findungen eins der gedichte zu skizzieren, die in ihm warten, auf einem blatt papier in die harmonie zu finden, die sich aus dem gleichgewicht der wörter und der ausbalanciertheit der zeilen für ihn ergeben würden, so er nicht in den bann deren urbilder geraten innehielte, uninteressiert an ihrer konkretisierung!

hatten christian ide hintzes  p e r f o r m a n c e s  ihren ursprung bei den dadaisten? so wenig wie bei gerhard rühm oder bei ernst jandl! gerhard rühm ein genialischer virtuose, der dank seiner universellen begabung zum dichter, zum komponisten, aber auch zum zeichner, sänger und kunsttheoretiker, ähnlich wie franz liszt auch zum transkripteur, die seit langem getrennten künste wieder zusammenführt - ein poeta doctus. der mit intellektuellem vergnügen wie mit versuchsanordnungen in einem laboratorium ein künstlerisches system nach dem anderen entwickelt, immer ganz er selbst einem kalkül verpflichtet zur steuerung seiner einfälle.
eine ähnliche "akademische" distanz zum dichterischen prozeß war auch ernst jandl anzufühlen, und hätte der sich beispielsweise von der denkungsart des einen und anderen gugginger künstlers inspirieren lassen: beklemmend mögen manche seiner rezitationen gewesen sein, auch weil ihm vor anstrengung hochroten gesichts die augen hervorquollen, am hals der adern anschwollen, als würde er sofort von einem schlagfluß ereilt - aber das war zugleich als die theatralische selbstinszenierung eines melancholischen intellektuellen zum lachen, der vielleicht nur vor seiner zuhörerschaft glücklich war.

christian ide hintze hingegen, wobei die eine kunst nicht gegen die andere ausgespielt sei, versetzt uns in ein erahnen, was an "furcht und schrecken" die antiken tragödien auszulösen vermochten: befremdlich und auch beängstigend macht er in so mancher seiner per- (oder richtiger:) transformances sichtbar, welch zum zerreißen dünne zivilisationshaut uns die aufklärung verpaßt hat, zur besserung des menschengeschlechts: unser seelen - und / oder triebleben ist das von unmündigen kindern geblieben, ins geistesgestörte und verbrecherische sind wir dem schöpfer oder der schöpfung mißglückt. und wie kann ihm das gelingen?

dank seiner spezifischen begabung zur kontemplation, den mystikern ähnlich gegeben gewesen, gelingt es ihm, sein ich-bewußtsein abzustreifen und also, ohne den boden der bühne unter den füßen zu verlieren, in sich hinabzusteigen, notwendigerweise als ein zweigeteilter, aber nicht schizophrener, so tief hinab nämlich, daß er in fruchtbarer versunkenheit da unten in frühmenschzeitlichen schichten anlangt und, unbehelligt vom licht der aufklärung, in kollektives vergessen verbanntes heraufholt.

nicht ein schauspieler ist er, eher ein schausteller mit exhibitionistischem beigeschmack, aber weit mehr einem schamanen zu vergleichen, der einem anderen über berge hinweg botschaften sendet und auf antwort wartet - die holt er dann aus sich heraus!