1979: holba über "zetteldämmerung"

herbert holba:
zetteldämmerung
(kinofilm von alfred kaiser, s/w, 90 min, austria 1979)

 
christian ide hintze ist ein prinzip und ein bündel tatsachen. er ist das ergebnis von 1,2 millionen berührungen. als hand-zu-hand-beatmer übermittelte er informationen, gedichte, aphorismen und mikroskopische gedankensplitter: kleine zettel auf denen seine weltsicht notiert ist; berichte über den stand der dinge – seiner dinge, die auch unsere sind. hintze ist ein barde der straße, ein sänger, der den dialog sucht. asphalt und menschen, frage und antwort. wer françois villon liebt, wird hintze leichter erreichen. er motiviert den anonymen straßenpassanten, rückt ihm das 21. jahrhundert näher, wo die menschheit entweder tot oder berührungsfähig ist.

cih ist auch ein code, eine auflehnung gegen 007, 08/15 und sämtliche sozialversicherungsnummern. und es ist völlig egal, welche seiner wortprovokationen ausgereift herausfordern. er trifft seine partner physisch und psychisch. welcher literat hat bislang die kraft aufgebracht, sich seinem leser mitbeizugeben? da tritt ein anynomer anonymen entgegen und betreibt agitprop. keine waschmaschinen, keine sexstimulantia – sondern gedanken, auch widersprüchliche. denn die widersprüche und konflikte der wirklichkeit sind auch die widersprüche und konflikte des hautnah agierenden mittlers. kommunikation als beweis für leben. konfrontation als überlebenschance. oh welch ein praktiker! auf der strecke bleiben nur jene, die erniedrigen müssen, um sich erhöhen zu können. die ewigen zeitmonomanen mit scheuklappen vor dem wirklichkeitssinn. die anderen profitieren von seiner aufrichtigkeit und seinem optimismus.

hintze ist wirklich. seine zettel sind es auch. ebenso die von ihm praktizierte menschenaufwertung. das ist so, wie wenn einer einem unbekannten "guten tag" sagt, es auch meint und dem lächeln seine lyrischen, abstrakten, realen oder verspielten kreationen hinzufügt. leben ist literatur. literatur ist leben. nebenbei demonstriert hintze den unterschied von "sozial" und "kommun". man kann konkret in die zeit schlüpfen. der mensch, als biologisches und soziales phänomen, erwarb, setzt ein und entwickelt. hintze praktiziert leben und läßt es in den anderen einfließen; erhält es zurück, erlebt sich neu.

"ein mann, der sagt, daß er kfz-mechaniker sei, erklärt, er würde sich 'auch' umbringen, wenn er seine arbeit nicht hätte" ist reflex auf reflexionen. eine mitteilung aus einem lebensraum, in den hintze eindrang, mit einem zettel in der hand und einem sack voll vorurteilslosigkeiten: ein stück wirklichkeit.

der österreichische filmemacher alfred kaiser ist hintzes gegensatz. er sucht nicht wirklichkeit, sondern filmwirklichkeit. trotzdem machte er hintze und dessen streifzüge zum film. daß die beiden sich fanden, ist einer jener unerklärlichen vorfälle, die erst im nachhinein motiviert werden, damit sie nicht zufällig wirken. und wie das finden wirkte. eine großartige eruption artistischer genesen.

wie hintze kaiser sah, erfährt man aus dem, wie kaiser hintze sieht. "zetteldämmerung"! der titel dieser fast 90minütigen schau für antivoyeure und montagefanatiker steht im widerspruch, kann anbrechender morgen oder abend sein. konkret faßbar ist nur ein "beginnen". das ideologische verhältnis der ungleichen partner zum vorfall an sich hätte nicht besser präzisiert werden können. die wirklichkeit ist alles. ihr schein dem sein eindeutig überlegen. hintze agiert – und kaiser beschreibt. dokument, montage, komposition und kontrapunktion ergeben sich aus geräuschen, musik und meinungen. strenge, nach musikalischen prinzipien aufgebaute filmsequenzen. ihr anlaß ist hintze. die akteure sind zettel, magische spielsteine, weißschwarze quiquis einer realisierten idee. welche kraft von ihnen ausgeht, beweist das bild. doch kaiser verweist auch auf menschen. wir wissen nicht, wer sie sind - nur daß sie sind. ein riesiges menschenfaß ohne boden. die ästhetik der wirklichkeit ist die wirklichkeit selbst. die faulen tricks der leni riefenstahl entpuppen sich nach kaisers offenbarungseid als nukleare gartenzwerge, und die monotonen schichtendurchdringungen andy warhols als synthetische wegwerfblenden. assoziationen bieten sich an, zwingen aber nicht. die wirklichkeit kann für sich alleine aussagen. das resultat hintze verselbständigt sich. wird zu unendlichen zetteln, die herumschwirren, fallen und verschwinden. denn die sicht kaisers ist nicht ausschließlich der verstand hintzes. auch die emotionen sind verschiedene.

der eingang zur wirklichkeit ist hintze (auch wenn ihn der cineast kaiser aus dem bild drängt!). sein impuls bleibt und setzt die dinge in bewegung, reduziert kaiser zum handlanger. wie auch hintze zum handlanger wird, wenn er filmwirklichkeit offeriert und wirksam werden läßt. dann bieten sich assoziationen nicht nur an, sondern zwingen und der schein ist nun dem sein überlegen! der eingang zur filmwirklichkeit ist kaiser (auch wenn ihn der praktiker hintze zur aufmerksamkeit drängt!). für den zuschauer entsteht ein eigener film: sein persönlicher. these und antithese führen zur synthese. gedanken lösen gedanken ab und bilder bilder. reales und künstliches wirken gemeinsam ein. sie sind in einer sonderbaren partnerschaft gefangen. welch geniale wirksamkeit! hintze ist poet - kaiser ebenso. der eine schreibt mit der feder, der andere überlegt mit der kamera. überragend sind beide.

die geschichte des dokumentarfilms beginnt mit dem traum der gebrüder skladanowsky und den ökonomischen überlegungen der gebrüder lumière. der beweisfilm beschäftigte generationen von filmemachern und ideologen. er wurde ge-, ver- und mißbraucht. deshalb ist die geschichte des dokumentarfilms auch die der gesellschaftlichen wandlung, einsicht und manipulation. zuletzt ist die fixierung der realität auf filmband eine mumifizierung von verhalten, verhältnissen und gegebenheiten.

"zetteldämmerung" ist ein dokumentarfilm, der sich der mumifizierung entziehen möchte, genauso wie er sich der wirklichkeit zugunsten einer filmwirklichkeit entziehen will. der kampf, den kaiser ausficht und den hintze gelassen beobachtet, ist ebenso aufregend und aufschlußreich wie hintzes kontrakt mit der wirklichkeit, den kaiser gelassen registriert. in der summe das dokument zweier lieben ... und das ergebnis zweier bemühungen.


(herbert holba, cineast, filmkritiker und regisseur, in: f (= filmjournal), nr. 15. ulm, august / september 1979)