1979: peter hajek, kurier: zetteldämmerung

peter hajek:
mit zetteln von mensch zu mensch


der film über christian ide hintze

1,2 millionen zettel hat der wiener christian ide hintze in den letzten vier jahren in deutschland, der schweiz und österreich an öffentlich zugänglichen plätzen an unvorbereitete verteilt.
inhalt der zettel (siehe rechts): "gedichte, nachrichten, überlegungen, utopien."
zweck der zettelverteilung: "literarische mitteilung und ganz persönliche kommunikationssuche."
neben vielen anderen, verschiedensten reaktionen, bewirkte er 3000 schriftliche antworten damit (...).
hintzes zettelaktion erscheint jetzt zweifach dokumentiert in den medien. einmal als buch unter dem titel "zettelalbum" (michael schönemann verlag), einmal als film unter dem titel "zetteldämmerung".
alfred kaiser hat "zetteldämmerung" (85 min, 16 mm, schwarzweiß) im vergangenen herbst mit hintze gedreht und präsentiert den film nun ab 11. juni im wiener action-kino (1070 wien, lerchenfelderstraße 75) im sinne des autors:
in den ersten 13 reihen sollen jene sitzen, die den film ununterbrochen verfolgen wollen.
die reihen 14 bis 21 sind für die reserviert, die im sinne hintzes handeln möchten: "da sitzen oder stehen jene, die zwischendurch aufstehen oder sich niedersetzen wollen, um sich die füße zu vertreten oder um im informationsraum oder vor dem kino oder ... oder/und miteinander zu reden."
im action-vorraum findet dazu eine umfassende ausstellung von hintzes zetteln statt.
zu "zetteldämmerung" einige materialien.

(kasten 1):
eine märchenfigur ...
zu "zetteldämmerung (siehe links) hier ein text, den christian ide hintze im februar 1975 verteilte. titel: "die entfernte verwandte":
"er erwartete eine entfernte verwandte. als das telefon läutete, hob er ab und hörte sie fragen: "störe ich?" als an der tür geklopft wurde, öffnete er und hörte sie fragen: "darf ich eintreten?" als sie ihn grüßte, hörte er sie fragen: "habe ich mich verspätet?" als sie den mantel ablegte, hörte er sie fragen: "ist es recht so?" als sie sich setzte, hörte er sie fragen: "wie geht es dir?" als er sie nach dem grund ihres besuches fragte, entschuldigte sie sich."
eine der schönen antworten, die hintze erhielt:
"lieber ide, bis gestern habe ich immer nur von freunden von dir gehört. was sie erzählten, klang wie ein märchen. es war so unwirklich. ich dachte, die träumen mir nur etwas vor, das sie sich selbst zusammengereimt haben. aber gestern habe ich dich auch einmal gesehen. du bist bei der friedensbrücke gestanden und hast deine geschichten verteilt. die leute waren wahrscheinlich genauso überrascht wie ich jetzt. jetzt weiß ich, daß du wirklich eine märchenfigur bist. für mich bist du eine. aber gar nicht unwirklich. das wollte ich dir nur einmal sagen. sabine. s."

(kasten 2):
die kultur der verständigung
christian ide hintze (siehe oben) über "zetteldämmerung":
"... aber was die kamera wirklich entschlossen beobachtet, das sind die müdigkeiten, die gewöhnlichkeiten und manchmal auch die erstaunlichkeiten, die ausgelöst werden, wenn zettel in den stinknormalen lauf des miteinanderauskommens unter wildfremde menschen geworfen werden. da steigen aufgestöberte gestalten durch den film, steigen treppen hoch, überqueren straßenkreuzungen, strömen aus fabrikstoren, fahren mit rolltreppen, durchschlendern marktplätze, hocken in kneipen, flanieren in fußgängerzonen, verlassen kaufhäuser, tummeln sich auf bahnhöfen ... unterbrochen und für augenblicke neu geregelt durch ein paar zettel, die ihnen entgegengehalten werden.
und da plätschern aufgestöberte geräusche durch den film, plätschern über flüssen, knirschen in stadtbahnschienen, läuten von kirchenglocken, murmeln aus gesichtern, quietschen aus zügen, brausen im wind, trommeln von kneipentischen, klirren aus bierflaschen, singen aus drehorgeln ... unterbrochen und für augenblicke neu geregelt durch ein paar zettel, die ihnen entgegengehalten werden.
planlose zusammenstöße werden sichtbar, planlose gespräche hörbar. aspekte einer kultur treten auf, der kultur des sichverständigens. unterbrochen und für augenblicke neu geregelt durch den film, der ihr entgegengehalten wird. "zetteldämmerung" ist eine anarchistische symphonie geworden, eine symphonie in reden und schweigen."


(peter hajek in: kurier, freitag, 8. juni 1979)