1987 sueddeutsche on die goldene flut

christian ide hintze: die goldene flut. buch. gedichte.
kiepenheuer & witsch. 197 seiten. isbn 3-462-01815-9. köln 1987
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paul konrad kurz:
lyrische herzmission. die gedichte von christian ide hintze


ungewöhnlich ist der titel, ungewöhnlich der ausgangspunkt, das pathos, der lyrische glaube. "die goldene flut", das paßte in die jugendstilzeit oder in eine phase der neuromantik. aber ins späte 20. jahrhundert?

die meisten versautoren gehen, wenn sie nicht prononciert experimentell mit sprache arbeiten, immer noch von erfahrungen und ereignissen der realen welt aus, von begegnungen mit menschen, natur und landschaft, auch von gesellschaftlichem engagement, der auseinandersetzung mit sich selbst. ausgangspunkt für christian ide hintze sind texte - überwiegend gedichte - anderer autoren: von sappho und yoko ono, von anna achmatowa und friederike mayröcker, lenau und christine lavant, rimbaud und przybos, büchner und bob dylan, mao tse tung und milosz, pablo neruda und john lennon. lauter begeisterte, unter ihnen viele trunkene dichter und sänger.

christian ide hintze lebt in wien, wo er 1953 geboren wurde. er brach seine theaterstudien ab, tauschte die kommunikationswissenschaft gegen die lebendige kommunikation auf der straße. fünf jahre lang (1973-1979) verteilte er in wien selbstgeschriebene handzettel an passanten. die vermochten auf solche ansprache aus der nähe freilich nicht zu antworten. enttäuscht zog sich der spontane dichter aus der berührung mit der menge zurück. fortan dichtete er in der absonderung; nach vorsätzlicher wartezeit hat er seine texte der literarischen öffentlichkeit übergeben.

hintzes verse wollen nicht eine vorgefundene wirklichkeit abbilden, vorstellen oder repräsentieren. sie sind vielmehr antwort auf diese wirklichkeit, stellungnahme, gegenentwurf einer poetischen utopie. als flutender gegenentwurf zu einer erstarrten (bürger-)welt sind hintzes texte gar nicht so weit entfernt von der einstigen "wiener gruppe", von jonkes "fernem klang", von h. c. artmanns und gerhard roths phantastischen schöpfungsmythen.

es geht hintze nicht um nachahmung der textvorderen, nicht um paraphrase, montage von versatzstücken, parodie. die nicht nur gelesenen, sondern erlebten gedichte berühren den gleichgestimmten. ihre bilder, bekenntnisse, rhythmen stimulieren des autors phantasie. sie setzen seinen enthusiasmus sprachlich in gang. sie befreien den eigenen fluß der bilder. weil es nicht um wiederholung und variation der vorlage geht, konnte auf den abdruck der impulsgedichte verzichtet werden. sie haben die funktion einer zündung für die eigene dithyrambische flut. anna achmatowa und sappho werden angerufen für ihre "fließbegabung". nach joni mitchell und bob dylan gehen die beiden achtseitigen titelgedichte "die goldene flut". vergangenheit vergegenwärtigt das erste. zukunft verheißt das zweite:

ich sage, es wird eine goldene flut kommen. eine flut
wird kommen, eine goldene flut. sie wird sich über
schwarze länder wälzen. sie wird sich über länder wälzen
silberschwarze länder. sie wird aus müden poren strömen,
aus ascheweißen poren strömen. die erde wird in hitze atmen.


ich sage, es wird eine goldene flut kommen. eine flut
wird kommen, eine goldene flut. sie wird die alten lichter
löschen. alte lichter löschen. sie wird die frischen ströme
heiligen. die frischen ströme menstruationsblut. sie wird
das menstruationsblut heiligen. die erde wird in farben atmen.


die poetische flut will das alte fortschwemmen, wenn nicht den neuen menschen, so doch ein neues lebensgefühl befreien, propagieren, erschaffen. aber voraus geht die bürgerkritik "nach john lennon und paul mccartney":

vor lauter telefonieren sind ihnen fünf arme und drei
zungen gewachsen. vor lauter terminkalender tausend
füße und eine düse hinten zwischen den backen. vor lauter
karriere sieben ellbogen und drei als ersatz im hosenschlitz.


ein transzendierender goldgrund rahmte einst die spätmittelalterlichen bilder. in der gründerzeit war der "goldbeschwingte frühlingstag" ein privileg emanuel geibels. bereits parodistisch, aber immer noch gemeint, setzte brecht in der "dreigroschenoper" für die songbeleuchtung goldenes licht. daß popsänger den goldglanz in unserer zweiten jahrhunderthälfte neu entdeckt haben, ist bekannt. die kürzeste formel für hintzes vitalistische flutsymbolik liefert sein "aktuelles märchen":

golden ist das wasser, das die städte überflutet, und die erste insel dann.
golden ist der schrecken, der in die glieder fährt.
golden ist die letzte stunde, die schlägt, und die ersten blicke dann.
golden ist die erde, die in trümmer fällt, und die ersten blumen dann.
so sagen, solange sie ungelesen bleiben, die letzten worte:
golden ist die welt, die sich dennoch bildet, wenn alles längst vorbei ist.


der leser erkennt spuren des expressionistischen weltzertrümmerungspathos', ein pop-vitalistisches lebensgefühl mit quasi-religiösen zügen. die sinne sollen "unheilfrei" werden, der körper durchgeistet, die seele rauschhaft beflügelt. eine neue romantikwelle, die da, durchaus traditionsgetragen, in die "postmoderne" schwappt? - ich erkenne unterschwellig eine verbindung zu peter sloterdijks "fluidalem kosmopolitismus", zu seiner kritik der gegenwärtigen schulphilosophie, die "mit ihrem verlangen nach wissenschaftlicher sicherheit das erscheinen des glühens vergißt" (im roman "der zauberbaum", 1985). grandios die abschliessende (elfseitige) anrufung sapphos und ihrer "bunten thrones ewige aphrodite":

unter fremden stimme aus der mitte. erregerin der lyrik
du, an die ich meine wehen trage.
erbarme dich der lyriklosen welt. gib mir die gründerkraft ...
laß mich die neue herzmission erfinden ...
ich werde ihnen zeigen, daß die krone unserer hoffnung
die gedichtemenschen sind. ich werde sie bewegen, sich deiner insel zu erinnern ...


ob jemand hintze als postmodernen romantiker, als nachfahren der expressionisten, als neuen vaganten oder schamanistischen popsänger apostrophiert, es wird den begeisterten wenig kümmern. der hat seinen eigenen rhapsodischen ton gefunden. er übergibt hoffnungsvoll, und bewaffnet, der poetischen kindheit nahe, einer lyrikfeindlichen welt seine lyrische botschaft: gegen, für die "ausbund-an-fitness"-leute die trunkene flut.


(paul konrad kurz in: süddeutsche zeitung nr. 265, seite 43, dienstag / mittwoch, 17./18. november 1987)