1987 zuercher zeitung on die goldene flut

christian ide hintze: die goldene flut. buch. gedichte.
kiepenheuer & witsch. 197 seiten. isbn 3-462-01815-9 . köln 1987
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charitas jenny-ebeling
gedichte als "handzuhandparadies“
"die goldene flut“ von christian ide hintze


es sei gleich vorweggenommen: der 1953 in wien geborene christian ide hintze mutet seinem leser – rein quantitativ – einiges zu. "ein haufen ide“ – das ist durchaus wörtlich zu verstehen. das "schmale lyrikbändchen“ mit viel weiss und wenig druckerschwärze ist seine sache nicht. hintzes sprache schäumt einfallsreich und üppig dahin, wühlt grund auf und schleppt massen von treibgut mit, um es an fernen ufern wieder zu deponieren. der 200 seiten starke, dicht beschriebene wälzer ist das produkt eines autors, der noch an den "wortzauber“ glaubt. mit prophetischer gebärde predigt er als "ein in der welt praktizierender erzengel“, als "glückbevollmächtigter“, als "prinz mit dem massenmedienmond“ ein goldenes zeitalter. er wirbt für die von ihm erbauten "gedichtekolonien, in denen sich rebellen siedeln“: "es wird ein aufstand sein, so machtvoll wie das erscheinen der gedichte“; "ich sage, eine flut wird kommen, eine goldene flut“.

wer sich in hintzes wortflut wirft, wird so bald nicht wieder daraus auftauchen. das mag früher einfacher gewesen sein, als er – das "liedgepäck in der hand“ – seine zettel (1,2 millionen laut verleger) auf den strassen österreichs, deutschlands und der schweiz von hand zu hand weitergab: einen text pro passanten. wer mehr wollte, konnte sich schriftlich an ihn wenden. ein teil dieser aussergewöhnlichen schriftsteller-leser-begegnungen ist 1978 unter dem titel "zettelalbum" erschienen. danach hat sich der "lyrische guerilla“ aus der öffentlichkeit zurückgezogen, enttäuscht darüber, dass seine mission nicht der erhoffte erfolg beschieden war: "was ich in wirklichkeit erschaffen habe, das handzuhandparadies, das fingernetzwerk einer ganzen generation, das verwest jetzt in träumen, in der von gram verzerrten phantasie. und das ist schlimmer als das schandurteil eines weltlichen gerichts.“ so lauten die zeilen, die sich an georg trakls gedicht "ermatten“ entzündet haben.

alle texte der "goldenen flut“ – sie stehen der prosa näher als der gebundenen rede – haben sich je an einer dichterischen vorlage entzündet. die radikale abkehr von der strasse hat eine um so intensivere zuwendung zum geschriebenen und gesungenen wort gezeitigt. john lennon steht mit abstand an der spitze der geistigen animatoren. und das nicht von ungefähr: zwischen hintzes resigniertem rückzug von der strasse und dem auf der strasse ermordeten, brutal zum schweigen gebrachten idol kann man einen zusammenhang sehen. gleichzeitig wirkt aber sein beziehungsreiches rufen aus der stille wie eine fortsetzung des von lennon begonnenen lyrisch-musikalischen aussagens. ausser von leuten aus der rock- und popszene lassen sich vor allem die spuren österreichischer autoren ausmachen: friederike mayröcker, ingeborg bachmann, christine lavant, konrad bayer, erich fried; aus früherer zeit dann trakl, rilke, lenau bis zu grillparzer und zu einem brief von mozart. aber als hauptquelle von hintzes "goldener flut“ muss "die erfinderin der ewig jungen strophe“: die "hohe lesbosfrau“ sappho genannt werden. ihr, der "ichin mit dem du“, ist denn auch die abschliessende, ekstatisch gesteigerte hymne "nach der flut“ gewidmet. in religiös-erotischer emphase beschwört er sie mit immer neuen namen: "du mit der schmerzenswünschelrute“, "kussgebieterin“, "zeitenwenderin“, "wiegerin der einsamkeit“, "wirtin in lyrisch-konspirativen wohnungen“ usw. usw.

von lesbos schwingt sich eine brücke direkt nach wien. hintze bezeichnet sich insofern als "heimatdichter“, als er seine heimatstadt als metapher einsetzt für den ort, der ausgangspunkt für die "neue lyrische bewegung“ sein wird, von der er (weis)sagt, "dass sie kommen wird“. mit der "goldenen flut“ ist nicht allein der eigene worterguss, auch nicht die quelle, aus der er sich speist, sondern eine kommende revolutionäre erhebung gemeint, die eine lyrische ist. so sehr hintze mit seiner heilsbotschaft auf wien fixiert zu sein scheint (er nennt den "neugedachten himmel über wien das schönere gedichtedach“), sieht er sich doch gleichzeitig als "vielvölkerenkel“: "ich bin wienerisch und also slawisch, ungarisch, irgendwie germanisch, jüdisch, romanisch, zigeunerisch. ich bin nicht patriotisch. ich bin nur faktisch.“

das vielvölkergemisch wiens scheint sich unmittelbar auf das formale prinzip der verflechtungen ausgewirkt zu haben, nach dem die texte der "goldenen flut“ organisiert sind. dass es überhaupt eine ordnung, eine zugrundeliegende webstruktur mit einem goldenen faden gibt, offenbart sich erst nach wiederholtem lesen. nicht nur dass jedes gedicht seinen anlass oder vorwurf hat, nach dem oder gegen den es sich richtet; auch die jeweiligen gedichttitel kehren als zeilen in anderen gedichten an versteckter stelle wieder. der leser, der über genügend zeit und neugierde verfügt, kann sich also in zweierlei richtung auf die suche begeben: er kann – die bibliothek muss gut bestückt sein – die auslösertexte nachschlagen (sie sind bewusst nicht abgedruckt) und sie mit dem inhaltlichen, klanglichen, assoziierenden oder wortgetreuen niederschlag in hintzes texten vergleichen. er kann aber auch die textimmanenten zitate, wie sie die titel immer sind, aufspüren, um festzustellen, wie das gewebe dichter und dichter wird. ein labyrinthisches netz von bezügen – in der horizontalen und in der vertikalen – fordert auch vom leser etwas von der "wilden konzentration“, die dem autor für sein schreiben notwendig war. die technik des refrains, die hintze in der "goldenen flut“ verwendet, steigert die eindringlichkeit seines anliegens. in der musikalischen praxis ist die wiederholung von motiven keine seltenheit; in hintzes texten aber stellt sich leicht eine art schwindelgefühl ein, denn es ist schwer zu sagen, ob man eine stelle schon einmal gelesen hat oder ob es einen nur so dünkt. in manchmal narzistisch anmutenden selbstzitaten zeigt sich hintze als "räuber eigener talente“, "blickt verehrend zu sich selber auf“ und spricht goldene "letzte worte“.

wie weit nun die art thematischer verarbeitung ausdruck eines sendungsbewusstseins, wie weit sie rein musikalischer natur ist, lässt sich bei hintze schwer entscheiden. dass es sich um einen in höchstem masse eigenwilligen und bei allem bezugnehmen innovatorischen dichter handelt, der einen beträchtlichen haufen gold zutage fördert, steht ausser zweifel.

abschliessend sei ein von erich frieds "ungewiss“ inspiriertes gedicht wiedergegeben. es heisst "kritik an der ungewissheit“:

einer, der sagte: aus dem leben bin ich in die
gedichte gegangen.
einer, der sagte: aus den gedichten bin ich
in das leben gegangen.
einer, der dann fragte: welcher weg wird am
ende besser gewesen sein?
ein solcher, denkst du, hat sich nicht wirklich
auf den weg gemacht. sonst hätte er
erfahren, dass das gehen aus den gedichten
in das leben über keine entfernung und
das aus dem leben in die gedichte über
keine grenzen führt.
ein solcher, denkst du, wüsste, dass weder das
eine noch das andere ein weg, sondern
nur ein gehen nach der papierform
ist.



(charitas jenny-ebeling in: neue zürcher zeitung, fernausgabe nr. 108, seite  35, mittwoch, 13. mai 1987)