2004 goltschnigg georg büchner die goldene flut

Die goldene Flut. Buch. Gedichte.
Kiepenheuer & Witsch. 197 Seiten. ISBN 3-462-01815-9 . Köln 1987
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Dietmar Goltschnigg:
Georg Büchner und die Moderne, Christian Ide Hintze (Anm. 210)


ZUSTAUBZERFALLANFÄLLIG

nach Georg Büchner, "Dantons
Tod" 2. Akt, Szene "Eine Promenade",
von "Danton zu Camille" bis "Gehn ab"

Nie hat jemand mir etwas zugemutet. Daher bin ich unter
euch gegangen und dort geblieben. Das war die größte Zu-
mutung, die man sich vorstellen kann.

Ich begreife jetzt, warum die Leute nicht auf der Gasse ste-
hen bleiben und einander ins Gesicht lachen. Ich begreife
jetzt, warum der Himmel birst und die Erde sich vor
Schmerzen um sich selber dreht.

Nie hat jemand mir die Mittel erklärt. Ich habe selber et-
was aus mir gemacht: In meiner Seele geht die Welt
nicht unter.


Alle Gedichte der zwischen 1979 und 1981 entstandenen "Goldenen Flut" sind durch konkrete Prätexte veranlaßt worden, die Hintze, wie er im Vorwort des Bandes darlegte, unbeschadet ihrer ursprünglichen Gattungszugehörigkeit als "Gedichte" liest, die andere, von ihm "als groß verehrte Dichter" vor ihm geschrieben haben. Trotzdem besteht Hintze darauf, daß seine Gedichte "nicht die Gedichte der Großen oder Nachahmungen, Abwandlungen, Paraphrasen davon" seien, "sondern eigene Formen, die ihren Anlaß haben". (Anm. 211) Kein einziges der "Anlaßgedichte" wurde im Wortlaut mitabgedruckt, nur ihre Herkunft wurde in den jeweiligen Motti präzis mitgeteilt. "Zustaubzerfallanfällig" hat als "Anlaßgedicht" die von Büchners Danton zu Camille gesprochenen Worte in der Promenadeszene II/2: "Mute mir nur nichts Ernsthaftes zu. Ich begreife nicht warum die Leute nicht auf der Gasse stehen bleiben und einander in's Gesicht lachen. Ich meine sie müßten zu den Fenstern und zu den Gräbern heraus lachen und der Himmel müsse bersten und die Erde müsse sich wälzen vor Lachen" (B 95). Hintze hat "Zustaubzerfallanfällig" als Gegengedicht zu diesem Prätext angelegt. Im Gegensatz zu Danton, der sich selber eingestand, daß er die Kluft zwischen sich "und den ehrlichen Leuten" nicht zu überbrücken vermöge, ist Hintzes lyrisches Subjekt unter die Leute auf die Gasse gegangen und bei ihnen geblieben; so hat es die Mitmenschen, die Welt, den Kosmos und die eigene Seele, in der "die Welt nicht unter" gehe, in ihrer aller "Zustaubzerfallanfälligkeit" zu begreifen gelernt.

Nach diesem intertextuellen Schema (Quellenangabe im Motto – kritisch-produktive Verarbeitung des Prätextes – persönliches Resümee) hat Hintze alle seine Gedichte in der "Goldenen Flut" verfaßt, so auch das zweite, von "Dantons Tod" veranlaßte Gedicht (Anm. 212):


EWIGE MINDERHEIT

nach Georg Büchner, "Dantons Tod"
Luciles Lied in 4. Akt,
Szene "Platz vor der Conciergerie"

Himmel ist, Mond zieht.
Sterne stehen.

Auf Erden geben gute Herzen gute Strahlen ab, helle,
schöne, lange, damit's vom Firmament zurückglänzt auf
die Welt, aus Löchern, die sonst schwarz geblieben wären,
und dem Tun und Lassen dann den Anschein leiht, als ob's
von oben her beleuchtet wär.



Als Prätext dieses Gedichts fungieren die melancholischen Verse Luciles (die ihrerseits auf ein hessisches Volkslied zurückgehen) auf dem Platz vor der Conciergerie (IV/4), in der ihr geliebter Mann Camille seiner Hinrichtung harrt: "Es stehn zwei Sternlein an dem Himmel / Scheinen heller als der Mond, / Der ein scheint vor Feinsliebchens Fenster, / Der andre vor die Kammertür" (B 126). Diesen Prätext hat Hintze in der ersten Strophe seines Gedichts radikal auf sein syntaktisches Skelett reduziert. Drei parallel aneinandergereihte, jeweils nunmehr aus einem Substantiv und einem Verbum bestehende, kindersprachliche Satzfragmente evozieren das nächtliche, von Mond und Sternen beleuchtete Firmament, das sich in der zweiten, im Umfang wesentlich erweiterten Strophe nur als illusionärer, die metaphysische Obdachlosigkeit des modernen Subjekts nicht zu überdecken vermögender Abglanz irdischer Strahlen erweist.  (...)

Zwei der fünf Büchner-Gedichte in Christian Ide Hintzes Band "Die goldene Flut" (1987) wurden durch "Leonce und Lena" veranlaßt. Auch in diesen beiden Beispielen hat der Verfasser zur Gänze den im jeweiligen Motto penibel belegten Prätexten das Wort- und Bildmaterial entlehnt, gibt es jedoch nicht in einer Montage unversehrter Zitate wieder, sondern formt es paraphrasierend um. (270):


AMALGAM AUS KURIOSEN EPISODEN

nach Georg Büchner, "Leonce und Lena"
1. Akt, 3. Szene "Leonce indes träumend
vor sich hin: "O, eine sterbende Liebe"
bis "daraus machen lassen"

Mich ins Gewitter stellen und die Gedanken
blitzen lassen
Mich in den Regen stellen und die Wörter feucht
werden lassen
Mich ins Echo stellen und das Schweigen widerhallen
lassen
Mich in die Sonne stellen und die Tränen
kristallisieren lassen
Mich ins Licht stellen und den Tod spielen
lassen
Mich ins Wasser stürzen und die Fische golden
werden lassen:

Das Bleiche geht aus den wangen, die Blicke gehen aus
den Augen, und hinter den Lippen trocknen die Wörter
wieder ein


Wie der Titel des Gedichts ankündigt, handelt es sich hier um ein "Amalgam aus kuriosen", im Motto zitierten "Episoden" des melancholischen, liebes- und todessehnsüchtigen Leonce, die in der ersten, umfangreicheren, 13 Verszeilen umfassenden Strophe im schlichten syntaktischen Parallelismus durchgespielt werden. Die zweite, wesentlich kürzere, dreizeilige Strophe scheint jedoch – gewissermaßen als Gegengedicht – den Revue passierenden "kuriosen Episoden" des Prätexts einen neuen Sinn abzugewinnen. Wenn nicht – wie Leonce es wahrnehmen möchte – das "Rot", sondern das "Bleiche" "aus den Wangen geht", wenn nicht das "Auge ausglüht", sondern "die Blicke (...) aus den Augen" gehen und wenn nicht die epikuräisch geweinten "Tränen" zu ewigen Diamanten kristallisieren, sondern "hinter den Lippen (...) die Wörter / wieder" eintrocknen, dann manifestiert sich darin eine tröstende Vergänglichkeit, die auch die todessehnsüchtige, dem ganzen "Amalgam" zugrunde liegende Melancholie miteinschließt.

Die Überwindung der Melancholie ist auch das Grundmotiv des zweiten, von einem Prätext aus "Leonce und Lena" veranlaßten Gedichts aus Hintzes "Goldener Flut". Das lyrische Ich beschwört diese seine utopische Hoffnung in paradiesischen Bildern, die abermals im schlichten syntaktischen Parallelismus aneinandergereiht werden (271):

(Zwischentitel: Der "grimmige Materialismus" der Geschichte)


FORDERUNG NACH DEM WUNDENSTAAT

nach Georg Büchner, "Leonce und Lena",
2. Akt, 1. Szene: von "Lena: Ja, die
Pflanzen" bis "wie müde Libellen", und
2. Akt, 2. Szene: von "Valerio, gib ihm
das Glas" bis "Cymbeln schlagend"

Daß die Fliederblättchen einer Wiesenblume sich mit mir zum Schlaf zusammenrollen.
Daß die Sonnenstrahlen sich an Halmen wiegen.
Daß Blütenkelche mir den Kopf aufsetzen.
Daß Libellen mir den Nacken bohren, um aus der Wirbelsäule das Elexier zu saugen.
Daß Pflanzen mir die Füße nässen.
Daß roter Tau in meinen Adern rinnt.
Daß Nektar, wenn ich weine, naß in meinen Augen steht.
Daß ich, im Taglicht, wieder sehend werde.
Daß ich wieder einen Wald von den Bäumen, einen Baum von den Blättern, ein Blatt
von den Gedichten unterscheiden lerne.
Daß ich wieder glaube, in der Luft steht eine Diamantenflut.
Und daß die Visionen aufhören und statt dessen die Elfen meiner Kindheit wieder über Glockenblumen straucheln.
Daß ich, am Grund des Meeres, mit den Goldbeschuhten um die Mitte meines Her-
zens tanze.



Anmerkungen:
(210): Christian Ide Hintze: Zustaubzerfallanfällig. In: Ch. I. H.: Die goldene Flut. Gedichte. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1987, S. 29. - Ch. I. H. (geb. 1953): Studium der Theater- und Kommunikationswissenschaften in Wien (ohne Abschluß), dann Arbeit als Texter, Hersteller und Verteiler autobiographischer Zettel, 1979/81 Erschöpfungszustand, während dessen dieser Gedichtband entstand.
(211): Ebda, S. 9-11.
(212): Christian Ide Hintze: Ewige Minderheit. In: Ch. I. H.: Die goldene Flut (Anm. 210), S. 162.
(270): Christian Ide Hintze: Amalgam aus kuriosen Episoden. In: CH. I. H.: Die goldene Flut (Anm. 210), S. 161; vgl. "Leonce (indes träumend vor sich hin): O, eine sterbende Liebe ist schöner, als eine werdende. Ich bin ein Römer; bei dem köstlichen Mahle spielen zum Dessert die goldnen Fische in ihren Todesfarben. Wie ihr das Rot von den Wangen stirbt, wie still das Auge ausglüht, wie leis das Wogen ihrer Glieder steigt und fällt! Adio, adio meine Liebe, ich will deine Leiche lieben. (Rosetta nähert sich ihm wieder). Tränen, Rosetta? Ein feiner Epikuräismus – weinen zu können. Stelle dich in die Sonne, daß die künstlichen Tropfen krystallisieren, es muß prächtige Diamanten geben. Du kannst dir ein Halsband daraus machen lassen." (B 167)
(271): Christian Ide Hintze: Forderung nach dem Wundenstaat. In: CH. I. H.: Die goldene Flut (Anm. 210), S, 167; vgl. B176: "Lena: Ja die Pflanzen legen ihre Fliederblättchen zum Schlaf zusammen und die Sonnenstrahlen wiegen sich an den Grashalmen wie müde Libellen"; "Valerio (gibt ihm – Leonce – ein Glas): Nimm diese Glocke, diese Taucherglocke und senke dich in das Meer des Weines, daß es Perlen über dich schlägt. Sieh wie die Elfen über dem Kelch der Weinblumen schweben, goldbeschuht, die Cymbeln schlagend."


(Dietmar Goltschnigg: Georg Büchner und die Moderne: Texte, Analysen, Kommentar, Band 3: 1980 - 2002. Berlin 2004)